Was sind Kinder für uns Erwachsene und wie begegnen wir ihnen also? Um diese Frage zu beantworten, unterscheidet Barbara Arneil zwei Verständnisse von Kindheit: das Kind als Becoming und als Being. Als Becoming wird das Kind als in Entwicklung befindlich, unvollständig und auf ein zukünftiges Erwachsensein ausgerichtet gesehen. Als Being wird es bereits als vollständiger Mensch betrachtet; klein und unselbständig zu sein, ändert daran nichts. Beide Sichtweisen auf Kindheit spielen in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern eine Rolle. Aber oft findet nicht beides statt.
Kindheit als Becoming nimmt das in den Blick, was Kinder im Vergleich zu Erwachsenen noch nicht sind, etwa ihren Mangel an Selbständigkeit. Das ist berechtigt, weil Kinder noch nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen. Sie brauchen Zuwendung und Unterstützung. Das Handeln und Verhalten Erwachsener gegenüber Kindern ist mit diesem Fokus ein vorrangig auf Schutz und auf ihr zukünftiges erwachsenes Leben und dessen Gelingen gerichtetes. Erwachsene sind überlegen, zu Kindern besteht ein asymmetrisches Machtverhältnis.
Als Being steht das Kind im Hier und Jetzt im Fokus. Als das, was bzw. wer es ist, was es will und was es kann. Das elterliche Handeln und Verhalten ist dabei unmittelbar und relativ losgelöst von pädagogischen Motiven. Kinder und Erwachsene stehen sich gleichwertig gegenüber. Leider ist diese Perspektive in der Eltern-Kind-Beziehung oft unterrepräsentiert. Das ist schade - für Kind und Eltern, denn betrachten wir Kinder als Beings, so
sehen wir sie als vollwertige Personen. Das ist für die Entwicklung ihres Selbstvertrauens grundlegend.
reduzieren wir das Miteinander nicht auf das, was gefördert werden soll, weil Kinder es im Vergleich zu Erwachsenen noch vorrangig vermissen lassen: auf Rationalität (Murris). Die Betrachtung von Kindern als Beings berücksichtigt, dass Menschen, und also auch Kinder, nicht nur logisch denkende, sondern auch mit Körper, Gefühlen und Fantasie ausgestattete Wesen sind, mit denen man wunderbar selbstvergessen interagieren und spielen kann. Ohne Erziehungsziel. Einfach, um zusammen etwas zu erleben.
tragen wir - gewissermaßen als Nebeneffekt, ohne es in jedem Moment zu beabsichtigen - besonders zu ihrer Entwicklung bei, indem wir ihnen auf Augenhöhe und mit Interesse an ihren Wünschen, Sichtweisen, Erfahrungen und Gefühlen begegnen. Kinder und Jugendliche (und nicht nur die) blühen auf, wenn sich ihnen vertraute Personen offen und interessiert zuwenden und ihrem Denken und Fühlen einen sicheren Raum geben.*
bereichern wir mit nicht pädagogischen, sondern von ihnen als echt erlebten, Gesprächen die Beziehung zu unseren Kindern.
Klar, solange sie noch nicht für sich selbst sorgen und entscheiden können, sind wir für unsere Kinder verantwortlich und Erziehung braucht Ziele. Es bedeutet aber auch, Räume anzubieten für die Entwicklung und Erprobung von Autonomie. Wir sind verantwortlich für die Wahrung ihrer Interessen, nicht für jeden Schritt ihres Lernens (wäre auch unmöglich zu kontrollieren). Wer ein Kleinkind beobachtet, sieht ein von dem starken Willen angetriebenes Wesen, die Welt zu erkunden und dabei möglichst alles selbst zu tun. Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis (Grawe) und Kinder wollen lernen. Darum: Begegnen wir ihnen öfter als die, die sie bereits sind: in vielem kompetent und durchaus auskunftsbereit zu den eigenen Wünschen, Vorstellungen, Meinungen und Sichtweisen. Stellen wir ihnen - statt immer alles besser zu wissen - lieber Fragen, um zu verstehen und echte, intensive Begegnungen zuzulassen.
Wie übrigens die Forschung zum Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen zeigt, fördern offene, nicht lernzielorientierte Gespräche die Entwicklung von Denk- und Urteilsfähigkeiten (Daniel et al., Gorard et al., Topping, Trickey), Selbstwirksamkeit und Sozialkompetenzen (Siddiqui) signifikant. Beim Philosophieren geht es - wie der Name sagt - um philosophische Fragen. Da niemand - Eltern und Lehrkräfte eingeschlossen - auf philosophische Fragen endgültige, wahre Antworten hat, werden Heranwachsende in diesen Gesprächen ganz selbstverständlich als gleichwertig angesehen und ihre Meinungen und Argumente entsprechend ernst genommen. Die jungen Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind im Verlauf der Gespräche zunehmend motiviert, sich eine Meinung zu bilden und diese gut zu begründen. Warum? Weil ihre Meinung hier zählt.
*Joachim Bauer gibt dazu die neurobiologische Erklärung:
"Gemeinsam bilden die Leistungsdroge Dopamin, die Wohlfühldrogen aus der Gruppe der Opioide und das "Freundschaftshormon" Oxytozin ein geradezu geniales Trio. Menschen, die von ihrem Gehirn mit dieser "Mixtur" ausreichend versorgt werden, haben Lust aufs Leben, sind bereit, gemeinsam mit anderen etwas auf die Beine zu stellen, und wollen den Erfolg ihrer Taten genießen. Womit wir bei der Hauptfrage angelangt werden: Was muss geschehen, damit die Motivationssysteme des Gehirns ihren Cocktail über die Theke schieben, das heißt den Körper damit versorgen? Neueste neurobiologische Studien zeigen: Entscheidende Voraussetzungen für die biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden." In Bezug auf Kinder sagt Bauer: "Nur dort, wo sich Bezugspersonen für das einzelne Kind persönlich interessieren, kommt es in diesem zu einem Gefühl, dass ihm eine Bedeutung zukommt, dass das Leben einen Sinn hat und dass es sich deshalb lohnt, sich für Ziele anzustrengen."
Weiterlesen zum Beispiel hier:
Arneil, Barbara (2002): Becoming versus Being: A Crotical Analysis of the Child in Liberal Theory. In: Archard, David/Macleod, Colin M. (Hrsg.): The Moral and Political Status of Children. Oxford: University Press.
Bauer, Joachim (2019): Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Blessing.
Bauer, Joachim (2007): Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Daniel, Marie-France/Gagnon, Mathieu (2011): Developmental Process of Dialogical Critical Thinking in Groups of Pupils Aged 4 to 12 Years. In: Creative Education. 2011, Vol. 2, 4, S. 418-428.
Giesinger, Johannes (2007): Autonomie und Verletzlichkeit. Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung. Bielefeld: transcript Verlag.
Gorard, Stephen/Siddiqui, Nadia/See, Beng Huat (2015): Philosophy for Children. Evaluation Report and Executive Summary. School of Education. Durkam University.
Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Murris, Karin (2017): The Posthuman Child: iii. In: Kennedy, David/Bahler, Brock (Hrsg.): Philosophy of Childhood Today. New York/London: Lexington Books.
Siddiqui, Nadia/Gorard, Stephen/See, Beng Huat (2017): Non-cognitive impacts of Philosophy for Children. Durham Research Online, S. 1-8.
Topping, Keith J./Trickey, Steve (2007): Collaborative philosophical inquiry for schoolchildren: Cognitive gains at 2-year follow-up. In: British Journal of Educational Psychology 2007, Vol. 77, S. 787-796.
Trickey, Steve (2002): Promoting Social and Cognitive Development through Collaborative Enquiry: An Evaluation of the "THINKING THROUGH PHILOSOPHY" Programme. http://www.clacksweb.org.uk/document/228.pdf.
Vansieleghem, Nancy (2017): Infancy and the Experience of Being not Unable. In: Kennedy, David/Bahler, Brock (Hrsg.): Philosophy of Childhood Today. New York/London: Lexington Books.
Toller Artikel und wichtiges Thema. Ubuntu= ich kann nur von einem Mensch lernen ein Mensch zu werden... Herzliche Grüsse Mihaly