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Allheilmittel Achtsamkeit


Achtsamkeit ist ein Mega-Trend, der uns als Methoden-Set und Haltung im öffentlichen, beruflichen und privaten Leben begegnet. Zu Recht?

Mit Yoga und Meditation, inzwischen auch per App, versuchen die Deutschen, sich vom Alltagsstress zu befreien und zu entspannen. Es scheint zu funktionieren, denn wollte man Millionen von positiven Erfahrungen berichtenden Menschen Unrecht geben? Doch bei vermeintlichen Allheilmitteln ist häufig Vorsicht angesagt. Der Spiegel hat dem Thema Achtsamkeit vor Kurzem eine Titelgeschichte gewidmet. Darin fragt er auch nach Nebenwirkungen:

Bemängelt wird, dass "gesicherte Aussagen über die heilsame Wirkung von Achtsamkeit trotz vieler Untersuchungen fehlen" (Schindler/Friese). Auf Grundlage der 10-jährigen Forschung zu Nebenwirkungen von Praktiken wie Meditation (Willoughby Britton et al.) wird desweiteren auf 60 damit in Verbindung stehende Symptome hingewiesen, darunter Schlaflosigkeit, Panikattacken und sogar psychotische Symptome (Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Manien).

"Meditieren bringt den gestressten Geist zur Ruhe - mitunter aber auch zu sehr: Wer nur noch in sich selbst hineinhorcht, verliert den Blick für seine Mitmenschen." Der Spiegel 40/2023; Ressort Wissenschaft

Neben den individuellen Effekten weist der Spiegel in seinem Beitrag aber auch auf solche hin, die gesellschaftlich wirksam werden können - und das nicht zwingend positiv.

Zum einen könne Achtsamkeit eine distanzierte Haltung gegenüber dem Leid anderer fördern. Zum anderen würden tatsächliche Missstände zu psychischen Problemen umgedeutet.

"Achtsamkeit macht gleichgültiger, das Leid anderer verschwimmt im Nebel des Wohlgefühls." Der Spiegel 40/2023, Ressort Wissenschaft

"Der Lärm der Welt", so der Spiegel, "kann durch Meditation so nachhaltig verstummen, dass das eigene Ego komplett in den Mittelpunkt rückt". Nehmen wir die Definition von Achtsamkeit (mindfulness) als ein "offenes und nicht wertendes Gewahrsein der eigenen gegenwärtigen Erfahrungen" (Van Dam et al.). Das heißt, achtsame Personen nehmen die Position eines neutralen, nicht wertenden Beobachters ihrer Gedanken und Emotionen ein, ohne über deren Wertigkeit oder Inhalt zu reflektieren. Die Gedanken kommen und gehen, ohne einen Unterschied zu machen. Ereignisse verlieren dank Meditation an Bedeutung.

Auf der Hand liegt, dass wir diese Fähigkeit Menschen, die unter extremen psychischen Belastungen leiden, wünschen. Aber nicht jede Belastung ist unaushaltbar oder hat bereits Krankheitswert. Wann also soll im Vordergrund stehen, zu Problemen Distanz zu gewinnen, und wann ist es - auch auf lange Sicht - günstiger, sich Problemen zuzuwenden?

Eine problematische Entwicklung verortet Der Spiegel auch dort, wo "Achtsamkeit auf die Logik des Kapitalismus" treffe, etwa wenn innere Einkehr zur Leistungsoptimierung

"Narzisstische Menschen lieben die Achtsamkeitsarbeit, weil sie sehr auf den Moment fokussiert ist, [...]. Das erlaubt ihnen, alles zu tun, was sich im Moment gut anfühlt." Der Spiegel 40/2023, Ressort Wissenschaft

preiswerter sei als zusätzliches Personal. Zwar gewinne, wer Yoga und Meditation betreibe, ein Plus an Selbstwert bis hin zur Selbstüberschätzung, was sich zunächst bekanntermaßen gut anfühlt, aber ist sie gänzlich unproblematisch?

Wo immer - in Unternehmen oder Gesellschaft - ein wahrgenommener Missstand als psychisches Problem gedeutet wird, wird er auf diese Weise ins Individuum verschoben. Ist es eine positive Entwicklung, wenn Unternehmen, statt Abhilfe gegen chronisch unterbesetzte Teamarbeit zu leisten, um die Belastungsgrenze noch etwas auszureizen, den Mitarbeiter:innen Yoga spendieren? Wer dann dennoch unter Stress leidet, ist selbst Schuld, weil nicht entspannungs-kompetent?


Nun wird Mindfulness unterschiedlich definiert und Fragen zum genauen Zusammenhang etwa zwischen Aspekten von Achtsamkeit und prosozialem Verhalten lassen sich ohne weitere Forschung weder eindeutig bestätigen noch widerlegen (vgl. Kelly, Van Dam). Was man aber mit aller Vorsicht und, solange wir es nicht genauer wissen, feststellen kann: Nicht für alle und jeden und nicht immer und bei allem!


Wer sich für andere oder den eigenen Anspruch aufreibt und seine Gesundheit riskiert, tut gut daran, Signale des eigenen Körpers wahrzunehmen. Auch hilft es nicht, die Bürden der ganzen Welt auf die eigenen Schultern zu laden. Distanz kann den Blick für effektive und vor allem machbare Lösungen im Einzelfall sogar wieder freimachen. Wo Achtsamkeits-methoden dann helfen können, super!

Vor Verwendung als Allheilmittel und kollektive Haltung hingegen mag ein Blick auf den Beipackzettel schützen: Kann Narzissmus und Selbstausbeutung befördern, zur Lösung (kollektiver) Probleme eher nicht geeignet.



B. D. Kelly (2023): Mindful, mindless, or misunderstood? A critical perspective of the mindfulness concept. In: Irish Journal of Psychological Medicine (2023), 40, 491–493.


Julia Koch, Kerstin Kullmann, Tim Neumann in: Der Spiegel 40/2023: https://www.spiegel.de/wissenschaft/achtsamkeitstrend-was-sind-die-risiken-von-meditation-und-yoga-a-ba00dd0c-0fbd-4fb0-839e-1274476040c8


Simon Schindler, Malte Friese (2021): The Relation of Mindfulness and Prosocial Behavior: What Do We (Not) Know? Curr Opin Psychol. 2022 Apr:44:151-156.


Nicholas Van Dam et al. (2018): Mind the Hype: A Critical Evaluation and Prescriptive Agenda for Research on Mindfulness and Meditation. In: Perspectives on Psychological Science 2018, Vol. 13(1) 36–61.


Niels J.Van Doesum et al. (2020): Social mindfulness: Prosocial the active way,The Journal of Positive Psychology,15:2,183-193.


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