Utopien haben kein gutes Image. Wer meint, mit Visionen müsse man zum Arzt gehen, tut sich auch mit Utopien schwer. Dabei ist es eher umgekehrt: den Therapeuten kann sich sparen, wer eigene Vorstellungen von einer gelingenden Gesellschaft entwickelt und diese auch lebt. Utopisches Denken bewegt - uns und unser soziales Umfeld.
WAS IST ÜBERHAUPT EINE UTOPIE?
Unter einer Utopie versteht man den Entwurf einer möglichen, zukünftigen Lebensform oder Gesellschaftsordnung. Fällt diese negativ aus, spricht man von Dystopie. Nach Norbert Elias ist eine Utopie ein „Phantasiebild einer Gesellschaft, das Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme der jeweiligen Ursprungsgesellschaft enthält“ (Elias 1985). So zeichnet die Utopie nicht die tatsächliche Komplexität des Lebens nach - das wäre ein unendliches Unterfangen - sondern sie konzentriert sich jeweils auf bestimmte Aspekte: Zum Beispiel auf Vorstellungen dessen, wie wir künftig arbeiten, essen, wohnen oder reisen werden, wie gerechte Verteilung oder politische Entscheidungsfindung aussehen könnte. Usw. usw.
Unter einer Utopie versteht man den Entwurf einer möglichen, zukünftigen Lebensform oder Gesellschaftsordnung.
WOZU SIND UTOPIEN GUT?
Wer nicht weiß, was er will oder gut findet, kann sich auch nicht dafür einsetzen, dass es so kommt, wie sie oder er es gern hätte. Tatsächlich können wir ohne eigene entsprechende Vorstellungen nicht einmal die Entwicklungen um uns herum bewerten, weil uns dafür schlicht der Maßstab fehlt. Gesellschaftlich gesehen ist es daher sinnvoll, dass wir alle uns mit Zukunftsoptionen auseinandersetzen. Am besten im Diskurs und Austausch verschiedener Perspektiven (Wenning 2019: The Dignity of Utopian Imagination), denn was gedacht, ausgesprochen und diskutiert wird, gewinnt zunehmend an Gestalt und vereint dabei verschiedene Interessen.
Wer nicht weiß, was er will oder gut findet, kann sich auch nicht dafür einsetzen, dass es so kommt, wie sie oder er es gern hätte.
Aber mir geht es hier nicht um Politik. Mir geht es um etwas, das zu unser aller persönlichem Wohlbefinden elementar beiträgt: Lebenssinn.
Psychisches Wohlbefinden setzt voraus, in seinem Leben einen Sinn zu sehen (Löffler et al. 2014). Dieser Sinn kann in dem liegen, was man tut (happy people, heißt es, have projects), mit wem man etwas tut oder in der Kombination aus beidem. Sich Ziele zu setzen, deren Erreichen in der eigenen Macht liegt, ist daher Bestandteil vieler Therapie- und Coaching-Konzepte. Aber auch, wenn sie erreichbar sind, sind nicht alle Ziele oder Projekte gleichermaßen sinnspendend. Sie unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer subjektiven als auch gesellschaftlichen Bedeutung.
Dass meine Projekte und Ziele für mich selbst Bedeutung haben müssen, damit ich aus ihnen Sinn ziehen kann, ist selbsterklärend. Anderenfalls wäre es auch um meine Handlungsmotivation ja nicht gut bestellt. Auch dass subjektive Bedeutung nicht zwingend mit gesellschaftlicher einhergehen muss, versteht sich: Subjektiv kann es mir zum Beispiel bedeutsam oder wichtig sein, Briefmarken zu sammeln oder einen Vielfliegerstatus zu erreichen. Gesellschaftliche Bedeutung würde diesen Zielen aber wohl kaum jemand zusprechen. Aber aus welchem Grund sollen meine persönlichen Ziele und Projekte nun überhaupt gesellschaftlich bedeutsam sein?
Über die Frage, was gesellschaftlich gut oder bedeutsam ist, lässt sich zweifelsfrei streiten, wenn wir aber ehrlich sind, uns in andere Personen und Gruppen probeweise hineinversetzen und einen Moment über die jeweiligen Folgen nachdenken, die ein Projekt mit sich bringt, wissen wir zumindest grob doch recht schnell, ob es für die Allgemeinheit eher förderlich ist oder nicht. Dafür, dass das Verfolgen gesellschaftlich verträglicher Ziele und Engagements zum individuellen Wohlbefinden eher beiträgt als das anderer Anliegen, sehe ich vier Gründe: Erstens dient Gutes zu tun unserem Selbstwert. Wer davon ausgeht, mit seinem Handeln einen positiven Beitrag zu leisten, befördert auch sein Selbstbild. Bestätigung findet das Verfolgen guter Ziele und Projekte, zweitens, durch den Zuspruch des Umfeldes. Menschen sind dankbar und sie erkennen den Beitrag an. Auch dies trägt zum Selbstwert bei. Drittens spricht für die Wahl gesellschaftlich akzeptierter Ziele und Projekte die Tatsache, dass sie sich leichter umsetzen lassen als andere. Förderer lassen sich eher für Projekte gewinnen, die ihnen zu einem guten Image verhelfen. Aber auch Unterstützung aus idealistischen Gründen ist denen vorbehalten, die sich einer wertschöpfenden Sache verschreiben. Und dies führt zu Punkt 4: der sozialen Eingebundenheit. Über gesellschaftlich akzeptierte Projekte trifft man auf andere Menschen mit gesellschaftlicher Gestaltungsbereitschaft. Die gemeinsame positive Perspektive bestärkt, vereint und fühlt sich gut an.
Dafür, dass das Verfolgen gesellschaftlich verträglicher Ziele und Engagements zum individuellen Wohlbefinden eher beiträgt als das anderer Anliegen, sehe ich mindestens vier Gründe.
Vielleicht denken Sie, das hier zugrunde gelegte Menschenbild sei naiv. Ich denke, das ist es nicht. Ich halte die Theorie des "Survival of the friendliest" (Hare 2017; Bregmann 2020), der zufolge ein ausgeprägtes Sozialverhalten gegenüber Egoismus einen Überlebensvorteil darstellt, für überzeugend. Und die Phase, in welcher Sozialkompetenzen belächelt wurden, scheint auch passé zu sein: Wussten Sie, dass sich Menschen in Deutschland bereits im Jahr 2019, also vor Corona, für die Zukunft vor allem weniger Egoismus, die Verringerung sozialer Unterschiede und mehr Solidarität und Zusammenhalt wünschten (BMBF Foresight 2020, Daten erhoben in 2019)?
Also, meiner Argumentation folgend gibt es Gründe dafür, sich Ziele zu setzen oder Projekte vorzunehmen, die nicht nur den eigenen, sondern auch gesellschaftlichen Zwecken dienen. Aber wozu braucht es nun dafür Utopien?
IN DER SCHNITTMENGE ZWISCHEN DEN EIGENEN WÜNSCHEN UND DEM GESELLSCHAFTLICHEN GUTEN
Thomas Schölderle (2012: Geschichte der Utopie) sieht Utopien als „rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt werden“. Auch wenn ihre Phantasie- und Wunschbilder als unrealistisch bezeichnet werden, sind sie also dadurch gekennzeichnet, dass sie, zumindest prinzipiell, praktisch umsetzbar sein müssen und zu ihrer Verwirklichung nicht darauf angewiesen sein dürfen, dass Naturgesetze, beispielsweise die Schwerkraft, außer Kraft gesetzt werden (Bremer & Kuhnhenne 2017). Wir stellen uns also nicht irgendeine, in jeder Hinsicht fiktive, Welt vor, sondern wir ändern genau das, was wir verbessern wollen. Womit dieses Änderungs-Unterfangen sowohl zugleich Teil der Menge (vorstellbarer) eigener als auch gesellschaftlicher Interessen ist. Es braucht mithin Utopien, um herauszufinden, wo sich die Schnittmenge aus dem befindet, was man selbst sich wünscht, und dem, was aus der Perspektive der anderen wahrscheinlich wünschenswert wäre.
Es braucht Utopien, um herauszufinden, wo sich die Schnittmenge aus dem befindet, was man selbst sich wünscht, und dem, was aus der Perspektive der anderen wahrscheinlich wünschenswert wäre.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 1. DIE LISTE
Wie beginnt man das Unterfangen, eine eigene Utopie zu entwickeln, konkret? Es gibt verschiedene Wege zu einer Utopie, einen will ich grob skizzieren. Es beginnt damit, sich zu überlegen, welche Lebensbedingungen man für änderungswürdig hält. Das kann alle Lebensbereiche betreffen: Zum Beispiel die Art, wie mit jungen, alten oder kranken Menschen, mit Tieren oder mit der Erde umgegangen wird. Oder wie Ressourcen verteilt werden. Oder man möchte Ungerechtigkeiten im Rechtssystem bereinigen oder in der gängigen Moral. Oder die Tatsache, dass Orte, wie der, in dem man wohnt, keine gute Verkehrsanbindung haben. Oder Aspekte des Schulsystems etc. etc.
Jede und jeder von uns hat Kritik an den gesellschaftliche Bedingungen, unter denen sie oder er lebt. Das sagt über die Gesellschaft nicht aus, dass sie besonders kalt oder ungerecht ist. Gesellschaft ist immer im Wandel begriffen und sie kann gar nicht perfekt für jeden sein, denn die Komplexität ihrer Mitglieder ist so hoch, dass es immer nur um eine mögliche Annäherung gehen kann. Aus jeder individuellen Perspektive wird es etwas geben, das sich ungenügend, ungerecht oder vielleicht auch beängstigend anfühlt. Und da es um Veränderung geht, verstehe ich unter dem Label "gesellschaftlich" auch nicht nur oder vorrangig soziale Themen, sondern solche, deren Veränderung eine gesellschaftliche Aufgabe darstellt.
Es gibt viele Wege zur eigenen Utopie, beginnend mit Vorstellungen dessen, wie es noch und anders sein könnte.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 2. DIE LISTE BEREINIGEN
Man fertigt also eine Liste der Dinge an, die man sich anders wünscht. Im zweiten Schritt überlegt man nun zu jedem der Dinge auf der Liste, ob man die Veränderung, die man sich wünscht, auch als gesellschaftliche Bereicherung - wie klein auch immer - ansieht. Es geht nicht um die Weltrettung, sondern darum, zu prüfen, ob man gute Gründe dafür hat, zu sagen, es wäre (nicht schlecht und auch nicht egal, sondern) gut für die Allgemeinheit oder eine Gruppe von Menschen, wenn sich die Dinge entsprechend ändern würden. Damit entfallen vielleicht einige Dinge auf der Liste, allen voran der Vielfliegerstatus.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 3. PRIORITÄTEN SETZEN
Im dritten Schritt werden die verbliebenen Dinge auf der Liste priorisiert, und zwar nach ihrer subjektiven Wichtigkeit. Welcher dieser Wünsche fühlt sich am bedeutsamsten an? Was war schon immer Ihr Anliegen, hat Sie schon lange genervt? Und da ist es, Ihr persönliches Anliegen, um das es nun gehen wird. Ziehen Sie einen Kreis darum! Es macht nichts, wenn es bislang eher ein zartes Pflänzchen ist. Es stand ja schließlich im Schatten.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 4. GEDANKENEXPERIMENT
Im vierten Schritt erfolgt ein Gedankenexperiment: Sie stellen sich vor, Ihr Anliegen sei bereits umgesetzt. Wie wäre es, unter den veränderten Bedingungen zu leben, zu arbeiten, zu wohnen? - oder wie immer Ihr utopisches Thema lautet. Welche Bilder und Gefühle stellen sich ein? Welche Assoziationen tauchen auf? Geben Sie Ihren Vorstellungen Raum, lassen Sie sie wie auf einer inneren Bühne auftreten und malen Sie sie sich aus.
Innere Bilder und Emotionen sind an dieser Stelle ausdrücklich erwünscht - warum? Mit Aussagen wie "das Leben ist kein Wunschkonzert" wird häufig versucht, utopisches Denken, jede Idee dessen, wie es noch und anders sein könnte, ins Lächerliche zu ziehen. Ein Mangel an Rationalität wird suggeriert. Die Motivation dahinter heißt: Die Dinge mögen bitte so bleiben, wie sie sind. Was allerdings sowieso nicht passiert, weil Leben Veränderung immer schon impliziert. Vor allem aber geht, wer so denkt, von falschen Annahmen aus: Wissenschaftlich hinreichend belegt ist, dass Emotionen in unserem Handeln und Verhalten eine wesentliche Rolle spielen. Wir kennen das alle: Neujahrsvorätze sind das eine, ihre Umsetzung das andere. Der Kopf will, der Bauch nicht. Quälerei, bis man meist den Plan aufgibt. Es sei denn, beide wollen dasselbe. Daher ist es gerade wichtig, dass wir unseren positiven Bildern dessen, wie unser Leben sein könnte, eine Chance geben. Und natürlich lassen sie sich nicht immer und alle umsetzen, aber darum geht es ja: Wir wollen diejenigen herausfinden, die sich leichter realisieren lassen als andere. Weil sie nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv wünschenswert sind.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 5. AUSDRUCK FINDEN
Im fünften Schritt geht es darum, für die flüchtigen inneren Bilder Ausdruck zu finden. Damit sie sich nicht wieder verflüchtigen, sondern, im Gegenteil, eine erste Verstetigung erfahren, an der auch weitergearbeitet werden kann. Als Ausdrucksform wählt man diejenige, die einem am besten liegt: von der einfachen Stichwortliste aus Vorstellungen über die fiktive Erzählung, über das Gedicht, ein Bild, eine Zeichnung und eine Collage bis hin zum Theaterstück oder anderen Formen ist alles erlaubt, was Ihnen persönlich leicht von der Hand geht, Spaß macht und sich eignet, die eigenen Vorstellungen angemessen auszudrücken.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 6. DEN WEG SKIZZIEREN
Stellen Sie sich erneut vor, Ihre Utopie wäre bereits Realität. Denken Sie sich nun eine mögliche kurze Geschichte dazu aus, wie ihre Umsetzung realisiert wurde. Wer oder was hat die Veränderung bewirkt? Diesen Schritt bitte nicht zu komplex anlegen. Es geht darum, sich vorzustellen, welche Maßnahmen oder Aktivitäten wohl dazu beigetragen haben mögen, dass Ihr Anliegen Wirklichkeit wurde. Die Entwicklung rückwärts zu skizzieren, führt automatisch dazu, dass Sie denjenigen Weg wählen, den Sie für möglichst wahrscheinlich halten. Sie müssen die Umsetzung aber natürlich nicht im Detail entwickeln. Eine vage Vorstellung genügt, denn sicher können wir uns der Zukunft sowieso nie sein, wir es grundsätzlich mit Wahrscheinlichkeiten und unüberschaubarer Komplexität zu tun.
Wie kommt man zu einer eigenen Utopie? 7. DEN EIGENEN BEITRAG BESTIMMEN
Und nun kommt der eigene Beitrag zu Ihrer Utopie: Was möchten Sie selbst tun, damit Ihr Anliegen Realität wird? Die Größe oder Bedeutung richtet sich ganz nach Ihrem Geschmack, Ihrer Zeit und Ihrem Sinnbedürfnis. Von der Umstellung einer kleinen, als schlecht empfundenen, Gewohnheit bis zu einem Projekt, das Ihren Lebensmittelpunkt darstellt. Was immer Sie wollen oder können und was immer Ihrem Wohlbefinden dient. Hauptsache, es befindet sich in der Schnittmenge aus persönlichem Wunsch und Utopie, was der Fall ist, wenn Sie den sieben skizzierten Schritten folgen.
Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Nehmen wir an, Ihre Utopie sei eine Gesellschaft, in der alle Menschen sich besser verstehen, weil sie eine gemeinsame Sprache sprechen. In Sprachförderung sehen Sie ein Mittel zur Friedensförderung - im Kleinen wie im Großen. Schon immer befürworten Sie eine frühere und intensivere Sprachförderung für alle Kinder. Den Weg zur Umsetzung Ihrer Utopie sehen Sie in staatlichen Maßnahmen, wobei der Impuls zunächst von privaten Aktivitäten ausgehen muss, ehe der gesellschaftliche Druck zu Änderungen im Schulsystem führt. Sie entscheiden nun, dass Ihr eigener Beitrag in einer Lesepatenschaft für Kinder bestehen soll. Das ist etwas, wofür Sie eine angemessene Zeit aufbringen können und wozu Sie Lust haben. Wenn Sie in einigen Jahren in Rente gehen, planen Sie, diese Aktivität auszubauen. Wer weiß, vielleicht kommen Sie über Ihr Engagement mit anderen ins Gespräch? Und gründen eine eigene Gruppe? Gewinnen Sponsoren? Entwickeln das Konzept der Lesepatenschaft weiter? Oder aber lieben es einfach, mit Kindern zu lesen und über Gott und die Welt zu sprechen?
Aber das ist nur ein Beispiel. Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Wie wäre es allein schon, wenn utopisches Denken zu unserem Alltag gehörte?
Foto: Bild zu "Utopia" von Thomas Morus
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